Die 9 Herausforderungen
Liest man juristische Fälle, Verträge, Formulare, etc., muss zunächst die juristische Sprache als Fachsprache Beachtung finden.
Dabei gibt es folgende Herausforderungen von Ihnen als erstes zu bewältigen:
Herausforderung 1 Füllwörter fehlen
Dabei ist folgendes zu beachten:
- Als aller erstes fällt auf, dass in juristischen Texten vielfach Füllwörter fehlen (z.B. „eigentlich“, „zumeist“, „wohl“), so dass mit wenigen Sätzen eine sehr viel höhere Informationsdichte als mit umgangssprachlich geschriebenen Texte erreicht wird.
- Der Leser gewinnt dadurch den Eindruck, dass „alles“ im Text wichtig
- Ein schnelles „Überfliegen“ ist deshalb nicht möglich, im Gegenteil: wiederholtes und sorgfältiges Lesen ist notwendig.
- Gelernt werden muss, den zu bewertenden Sachverhalt zu verstehen und in allen seinen wesentlichen Einzelheiten zu erfassen sowie
- Wichtiges von weniger Wichtigem zu trennen.
Herausforderung 2 Fachsprache versus Umgangssprache
Liest man juristische Sachverhalte und Verträge, muss zunächst die juristische Sprache als Fachsprache Beachtung finden, was auch in anderen Berufszweigen der Fall ist (z.B. bei Ärzten).
Im Bereich des Rechts beschäftigt sich sogar eine eigene Wissenschaft damit, die sog. Rechtslinguistik (umgangssprachlich: „Juristenlatein“ oder „Juristendeutsch“).
Beispiele für grundlegende Unterschiede von Standard- und Rechtssprache
- „Billig“ heißt nicht „preiswert”, sondern „angemessen“,B. § 253 Abs. 2 BGB.
- „Unverzüglich“ heißt nicht „sofort“, sondern kann mehrere Tage bedeuten, wenn eine unverschuldete Verzögerung vorliegt, 121 S. 2 BGB.
- „Grundsätzlich“ meint nicht, dass etwas immer und ohne Ausnahmen gilt, vielmehr umgekehrt, dass etwas nur in der Regel so zu sehen ist, es aber Ausnahmen gibt, B. § 630h Abs. 5 S. 1 BGB.
- „Fahrradverleih“ versteht jedermann als entgeltliche Überlassung von Fahrrädern, streng genommen ist die Leihe aber unentgeltlich, § 598 BGB, so dass es richtig eigentlich „Fahrradvermietung“ heißen müsste
Herausforderung 3 Signalwörter mit großer Bedeutung
Das Recht verwendet aber auch viele Worte im ähnlichen Sinne, wie die Umgangssprache. Manche Begriffe sollten aber mit großer Aufmerksamkeit gelesen werden, will man den Rechtssinn einer Rechtsnorm oder eines Rechtstextes richtig erfassen, faktisch handelt es sich sozusagen um „Signalwörter“.
Beispiele für Ähnlichkeiten von Standard- und Rechtssprache
- „und“ = wenn z.B. mehrere Voraussetzungen kumulativ vorliegen müssen, z.B. Einbeziehungsvoraussetzungen für AGB, § 305 Abs. 2 BGB
- „oder“ wenn z.B. mehrere Voraussetzungen nur alternativ vorliegen müssen = z.B. Vorsatz oder Fahrlässigkeit, § 823 Abs. 1 BGB
- „kann“ deutet im Regelfall auf ein Ermessen hin, z.B. § 271 Abs. 1 BGB
- „gilt“ zeigt eine Fiktion an, z.B. Höhe des entgangenen Gewinns, § 252 Abs. 2 BGB ● „wenn nicht“ = leitet eine Ausnahmeregelung ein, z.B. §§ 24, 41, 139 BGB
- „insbesondere“ = bedeutet „zum Beispiel“ und bezeichnet eine nicht abschließende Aufzählung, z.B. § 138 Abs. 2 BGB
Herausforderung 4 Angeblich sind juristische Texte für jedermann verständlich
Die juristische Fachsprache hat im Vergleich zur Umgangssprache die Besonderheit, dass sie „sprachlich richtig und möglichst für jedermann verständlich gefasst sein“ muss, so die Gemeinsame Geschäftsordnung der Bundesministerien, § 42 Abs. 5 S. 1 GGO.
Das führt dazu, dass Juristen oftmals eigentlich umgangssprachlich bekannte Begriffe in juristischen Texten in einem genau definierten Sinne verwenden. So grenzen die Juristen z.B. den mit unbeschränkten Nutzungsrechten versehenen „Eigentümer“ von dem nur die tatsächliche Sachherrschaft innehabenden „Besitzer“ ab.
Beispiel der Fachbegriffe „Besitz“ und „Eigentum“
Klara ist Eigentümerin eines Computers. Michael stiehlt den Computer und benutzt ihn zu Hause für private Zwecke. Wer ist nun „Besitzer“, wer „Eigentümer“
- Auf die Frage, wem der Computer gehört, antwortet der Jurist differenziert nach Eigentum und Besitz. Trotz des Diebstahls ist Klara weiterhin Eigentümerin des Computers, § 903 S. 1 BGB. Michael ist aber Besitzer, da er die tatsächliche Herrschaft über die Sache ausüben kann, § 854 Abs. 1 BGB.
- Der Besitz entfällt grundsätzlich auch nicht dadurch, dass es sich um eine gestohlene Sache handelt, es kommt nur auf die tatsächliche Herrschaft an, § 854 Abs. 1 BGB.
- Solange es für den Eigentumsübertrag an der Übereignung nach §§ 929 ff. BGB und an der Gutgläubigkeit des Besitzers (kein gutgläubiger Erwerb) fehlt, bleibt die bestohlene Klara Eigentümerin!
Herausforderung 5 Ausnahmen bestätigen die Regel
Diese Arbeitsweise mit Regeln und Ausnahmen ist gewöhnungsbedürftig, aber erlernbar. Außerdem gibt es zu ihr keine Alternative: wollte man jeden Fall regeln, wäre das geschriebene Recht noch unübersichtlicher.
Also hat man sich für die gesetzliche Regelung der Hauptfallvarianten entschieden. Juristen antworten auch deshalb gerne unter Verwendung der Worte „grundsätzlich“ und „in der Regel“.
Hauptaufgabe des Juristen ist es nämlich herauszufinden, inwieweit ein Sachverhalt Besonderheiten aufweist, so dass dieser Ausnahmefall noch von dem jeweiligen Rechtssatz erfasst wird, oder ob er völlig anders zu behandeln ist.
Herausforderung 6: Jurist muss sich erst den Sachverhalt erarbeiten
Um keine falsche Antwort zu geben, fängt der Jurist daher immer mit einer allgemein gehaltenen Antwort und einem „…grundsätzlich…“ an.
Erst bei Kenntnis der Umstände des Sachverhalts kann z.B. entschieden werden, unter welche Vorschrift ein Fall fällt.
Das ist auch der Grund dafür, dass man bei der juristischen Fall-Lösung nur in den allerseltensten Fällen sofort mit einem „Ja“ oder „Nein“ antworten darf.
Der Jurist muss bei dieser Art „Frage-Antwort-Technik“ mit einer „Das-kommt-darauf-an“-Antwort beginnen, um den Sachverhalt besser kennenzulernen und die richtigen Rechtsregeln zuzuordnen.
Die erlernbare „Kunst“ der juristischen Arbeitsweise ist es, herauszufinden, worauf es bei der Lösung des konkreten Falles aus juristischer Sicht ankommt, dann die dafür passenden gesetzlichen Vorschriften zu finden, anzuwenden und darzustellen.
Beispiel für differenziertes juristisches Antworten
Diebstahl ist zwar regelmäßig strafbar, aber wenn ein Kunde in einem Kaufhaus beim Diebstahl von 43 Tafeln Schokolade erwischt wird, kommt es ausnahmsweise für die Strafverfolgung auf den Wert der gestohlenen Sache an.
- § 248 a Absatz 2 des Strafgesetzbuchs (StGB) sieht beim Diebstahl geringwertiger Sachen von einer automatischen Strafverfolgung durch die Strafverfolgungsbehörden ab.
- Erforderlich ist dann regelmäßig ein Strafantrag des Bestohlenen.
- Nicht umsonst liest man also in vielen Läden, dass jeder Diebstahl „zur Anzeige“ gebracht wird.
- Dieses basiert auf der Rechtslage, nach der zwar grundsätzlich jede Straftat vom Staat und der Polizei verfolgt werden muss (= Regelfall).
- Wegen des fehlenden öffentlichen Interesses gibt es aber im Bagatell-Bereich Ausnahmen, wobei die Grenze der Geringwertigkeit nach einem Urteil von 2003 heute bei 50 € liegen soll (OLG Hamm, 18.07.2003, 2 Ss 427/03, so dass dort bei 43 Tafeln auch bei fehlendem Strafantrag von einem besonderen öffentlichen Interesse an der Strafverfolgung ausgegangen worden ist).
Selbst wenn man viele Rechtskenntnisse und Erfahrungen hat, ist es dabei wichtig, Unbefangenheit zu bewahren und nicht in einen Sachverhalt ein Problem hinein zu interpretieren, das dort gar nicht ist, sog. „Sachverhaltsquetsche“.
Herausforderung 7 Was wirklich passiert ist, weiß evtl. keiner so richtig!
- Es gibt oft Widersprüche, Unklarheiten und Unwägbarkeiten!
- Es kann häufig nicht alles aufgeklärt werden!
Recht haben und Recht bekommen fällt auseinander:
- Recht bekommt oftmals nur der, der die für ihn günstigen Sachverhaltsangaben auch vor Gericht beweisen kann!
- Sind Angaben im Sachverhalt für eine Streitpartei günstig, muss diese dadurch begünstigte Partei grundsätzlich deren tatsächliches Bestehen nachweisen! – allgemeine Beweislastregel!
- Je nach Rechtsgebiet sind unterschiedliche im Gesetz geschriebene oder von der Rechtsprechung entwickelte Beweislastgrundsätze zu beachten!
Beachten Sie: Gerichte können sich nicht immer nach der tatsächlichen Wahrheit richten, da sie ihnen ja unbekannt ist.
- Im Zweifel wird sich das Gericht nach dem Sachverhalt richten, der bewiesen wurde, was aber nicht der tatsächlichen Wahrheit entsprechen muss.
- Man wird immer auch mit unbewiesenenen Sachverhalts-Angaben eine Lösung finden müssen.
Herausforderung 8 Unbefangenheit bewahren und den Sachverhalt nicht „quetschen“
Diese Unsicherheiten führen gerne dazu, dass man den Sachverhalt so uminterpretiert, wie man ihn verstehen möchte, um letztlich einem selbst bekannte Rechtsprobleme schildern und damit „glänzen“ zu können.
Frei nach dem Motto: „Ich weiß da etwas, das muss es sein, lass es Dir erzählen!„ Aber evtl. ist das Problem des Sachverhalts ein ganz anderes?
Dann wäre Ihre Arbeit am Sachverhalt in die falsche Richtung gegangen!
- Sollte ein Sachverhalt unklar sein, muss man ihn zudem auslegen und Annahmen und hypothetische Sachverhaltsverläufe konstruieren, was bei ungeübten Bearbeitern weiterhin Probleme
- Letztlich helfen Ihnen hier nur die vielfache Einübung von Fällen und die Betrachtung von vollständig gelösten Fallbearbeitungen mit ausformulierten Texten.
Das kostet natürlich Kraft, Zeit und Nerven! Aber es lohnt sich: Sie werden zu einem „Einäuigen unter Blinden“!
Herausforderung 9 Fallfrage zuerst lesen oder erst den Sachverhalt und die Fallfrage zuletzt?
Es ist sehr wichtig beim Lesen eines juristischen Sachverhaltes, die „Unbefangenheit“ zu bewahren, d.h.
- die eigene Intuition für mögliche Lösungen nicht zu schnell zu verschütten
- und wichtige Sachverhaltsangaben nicht zu überlesen.
Diese Unbefangenheit kann unter anderem gleich beim ersten Kontakt mit dem Sachverhalt dadurch verloren gehen, dass man zu schnell die Fallfrage sich ansieht.
Es besteht dann die Gefahr, den Sachverhalt nur „im Lichte“ der Fallfrage zu lesen und eigene Sichtweisen zu verstellen.
Deshalb wird in der Rechtsliteratur zuweilen empfohlen,
- den Sachverhalt zuerst zu lesen, um herauszufinden, was wichtig ist und
- dann am Schluss die Fallfrage.
Demgegenüber behaupten geübte Fallbearbeiter, dass man sich von dieser Gefahr der Befangenheit durch viele gelöste Fälle „frei“ machen kann.
Nach ihrer Ansicht ist das Gegenteil besser:
- Fallfrage als 1. Schritt lesen und
- dann als 2. Schritt den Sachverhalt.
Welchen Weg Sie einschlagen ist letztlich auch ein wenig „individuelle Ansichtssache“, ja „Geschmackssache“.
Letztlich bleibt es jedem selbst überlassen, in welcher Reihenfolge er Sachverhalt und Fragestellung liest.
- Hier „geht Probieren über Studieren“.
- Aber eine Entscheidung muss getroffen werden.
Die Tipps
Tipp 1: Lesegeschwindigkeit reduzieren! Langsamer lesen!
1.1 Wurden die juristischen Besonderheiten berücksichtigt, indem die Lesegeschwindigkeit reduziert?
1.2 Umgangsworte von Fachworten unterscheiden!
1.3 Wurden auf die (vermeintlich bekannten) sprachlichen Formulierungen von Umgangsworten und Fachworten in juristischen Texten geachtet wurde?
1.4 Signalwörter suchen!
Tipp 2: Alles Wichtige im Sachverhalt in Datentabelle bzw. Fallskizzen zusammensammeln!
2.1 Hat man beim Lesen jedem Detail und jedem Wort Aufmerksamkeit geschenkt, es genau erfasst und richtig abgewogen?
2.2 Stichwort: Wurde der Sachverhalt mit einer „Goldwaage ausgewogen“ bzw. die „Rosinen des Falles“ herausgepickt?
Tipp 3: Regel-Ausnahme-Denken der Juristen beachten!
- 1 Geben Sie niemals eine sofortige, direkte Antwort auf eine juristische Frage!
Eine direkte Antwort des Juristen ist deshalb nicht zu bekommen, weil der Jurist nicht jeden Fall regeln kann, sondern nur die Hauptfallvarianten und Grundsätze!
Diese Arbeitsweise mit Regeln und Ausnahmen ist gewöhnungsbedürftig, aber erlernbar.
Außerdem gibt es zu ihr keine Alternative: wollte man jeden Fall regeln, wäre das geschriebene Recht noch unübersichtlicher.
- 2 Klären Sie erst, welcher Grundfall vorliegt, dann schauen Sie sich die besonderen Fälle und Ausnahmen an!
Hauptaufgabe des Juristen ist es herauszufinden, inwieweit ein Sachverhalt Besonderheiten aufweist, so dass dieser Ausnahmefall noch von dem jeweiligen Rechtssatz erfasst wird oder ob er völlig anders zu behandeln ist.
Genau, Sie formulieren zunächst immer die Lösung des Grundfalles (z.B. Fahrradfahrer verursacht einen Unfall und muss haften!) – und stellen Sie dann da, wo Ihr Sachverhalt abweicht (z.B. der andere Autofahrer A hat auch nicht alles richtig gemacht)!
- 3 Es geht nicht in erster Linie darum, dass sich der Jurist nicht festlegen will, da man ihn ansonsten wegen falscher Rechtsberatung verklagen könnte.
Auch wenn das ein oft gehörter Vorwurf von Nicht-Juristen ist, die von den ausweichend klingenden Antworten der Juristen “genervt” sind. Und manchmal kann es auch sein, dass Sie einen risikoscheuen Juristen vor sich sitzen haben, klar!
- 3 Um sich zunächst den Sachverhalt und die Lösung zu erarbeiten und keine falsche Antwort zu geben, muss der Jurist immer mit einer allgemein gehaltenen Antwort und einem „…grundsätzlich…“ anfangen.
Er kann nicht wissen, ob nicht Besonderheiten vorliegen. Erst bei Kenntnis der Umstände des Sachverhalts kann z.B. entschieden werden, unter welche Vorschriften ein Fall fällt.
Tipp 4: Tatsächliche und prozessuale Wahrheit auseinanderhalten!
4.1 Arbeiten Sie aus dem Sachverhalt die unstreitig passierten Angaben heraus!
4.2 Klären Sie, welche der Angaben umstritten sind und klären Sie, von wem diese bewiesen werden müssen!?
4.3 Arbeiten Sie mit Annahmen, wenn der Sachverhalt nicht endgültig zu klären ist!
4.4 Stellen Sie zum Schluss die Angaben aus dem Sachverhalt dar, die als bewiesen gelten und verwerfen Sie die nicht bewiesenen Angaben!
Tipp 5: Unbefangenheit bewahren!
5.1 Nur beiläufig Erwähntes ist normal abgelaufen!
- Wenn z.B. eine Kündigung eines Vertrages vorliegt, die auf Rechtsmäßigkeit überprüft werden soll, dann war der Vertragsschluss selbst dagegen unproblematisch, es geht nur um die um die Kündigung, d.h. die Beendigungsphase.
5.2 Sachverhalte, die nicht geschildert wurden, sind auch nicht geschehen!
- Wenn z.B. nichts über eine mangelnde Geschäftsfähigkeit im Sachverhalt steht, dann ist von einer Geschäftsfähigkeit auszugehen.
5.3 Hat jemand etwas behauptet, gegen das kein Widerspruch erhoben wurde, gilt es als wahr!
- Wenn z.B. geschrieben steht, dass der Jugendliche mit einem Fahrrad gefahren ist, dann ist es auch nur ein Fahrrad und kein Auto, Motorrad oder ähnliches.
5.4 Finden sich im Fall juristische Wertungen, darf man diese in der Regel übernehmen!
- Wenn z.B. im Fall es um die „Anerkennung“ einer Schuld durch den Fahrradfahrer geht, dann muss nicht geprüft werden, ob nicht etwa ein „Verzicht“ auf die Schuld durch z.B. die geschädigte Eigentümerin des LKW vorliegt.
5.5 Am Sachverhalt in einer Prüfungsleistung, z.B. Klausur, wird nicht gezweifelt, so unwahrscheinlich oder unmöglich er auch klingen mag!
- Dass jemand an der Unfallstelle eine Erklärung zur Schuldfrage abgibt und Fristen einhalten will ist wirklich schon vorgekommen, bitte nicht anzweifeln.
5.6 Kümmern Sie sich bei umfangreichen Sachverhalten zuerst um die konkreten Fragestellungen!
Dieses Vorgehen kann gerade bei umfangreichen Fällen den Vorteil haben, dass man zeitsparend gleich nach den gefragten Inhalten besonders Ausschau halten kann. Das setzt aber voraus, dass auch die Frage bereits sehr konkret formuliert ist.
5.7 Versuchen Sie bei kürzeren Sachverhalten zunächst nur den Sachverhalt zu lesen und dann erst die Fallfrage!
Bei kürzeren Sachverhalten birgt eine zu frühe Fokussierung auf die von den Beteiligten vorgebrachten Fragen tatsächlich die Gefahr des „Ausblendens“ relevanter Sachverhaltsangaben in sich. Es kann die oben beschriebene Art „Befangenheit“ entstehen.
Ihre Aktion (Call to action)
Beispiel Der Unfall mit dem Fahrradfahrer
Nehmen Sie den schon bekannten Fall und bearbeiten Sie die nachstehenden Arbeitsaufgaben um die im Fall gestellten Fragen zu klären:
Der 15-jährige Fahrradfahrer Fritz (F) schneidet auf einer unübersichtlichen Landstraße die Kurve.
Der entgegenkommende LKW-Fahrer Albert (A) der Spedition A-GmbH, der ebenfalls nicht allzu weit rechts fährt, wird zu einem Ausweichmanöver gezwungen und erleidet an seinem gerade neu gekauften LKW insgesamt 4.000 € Sachschaden einschließlich entgangenen Gewinns, da der LKW für 1 Woche nicht im Frachtgeschäft eingesetzt werden konnte.
F unterschreibt spontan auf dem vom Angestellten A am Unfallort ausgehändigten Unfallbericht eine Erklärung er „erkenne die Schuld an“ und „seine Versicherung werde den Schaden sofort ausgleichen“.
Als Zahlungsfrist vereinbart man „2 Wochen“.
Später nimmt die Polizei den Unfallhergang auf.
Nach Einholung von Rechtsrat weigert sich F in der Folgezeit, der A-GmbH den gesamten Schaden zu bezahlen.
Fragen:
- Was sagt das Recht zu diesem Fall?
- Kann die A-GmbH von F 4.000 Euro Schadensersatz wegen des Unfalls verlangen?
Frage 1 zur Fachsprache
Welche Worte des bereits bekannten Sachverhalts sind als Fachsprache zu identifizieren, so dass hier ein rechtlicher Bezug zu einer bestimmten Rechtsfolge herzustellen wäre?
Frage 2 zur Fallskizze bzw. Datentabelle
Wie sieht Ihre Fallskizze zum hier besprochenen Ausgangsfall aus?
Frage 3 zum Regel-Ausnahme-Denken
In dem nachfolgend dargestellten Fahrradfahrer-Fall ist zunächst davon auszugehen, dass der Fahrradfahrer grundsätzlich durch sein Verhalten alle Schäden zu ersetzen hat, d.h. 4000 Euro. Sehen Sie irgendwelche besonderen Umstände, die eine Ausnahme rechtfertigen würden, z.B. Zahlung eines geringeren Schadensersatzbetrages, da der Fahrer A ja auch nicht ganz richtig gefahren ist?
Frage 4 zur prozessualen und tatsächlichen Wahrheit:
Schauen Sie sich den bereits bekannten Fall des Unfalls auf der Landstraße an und finden Sie heraus,
- welche Sachverhaltsangaben evtl. zur tatsächlichen Wahrheit und
- welche zur prozessualen Wahrheit gehören könnten?
Frage 5 zur Unbefangenheit:
Aufgabe; Suchen Sie sich einen juristischen Sachverhalt zu dem Sie eine Musterlösung haben, und
- lesen Sie zunächst nur den Sachverhalt und schreiben eine kurze Lösungsskizze.
- Dann lesen Sie die Fallfrage und schreiben erneut eine kurze Lösungsskizze.
- Am Schluss vergleichen Sie Ihre Lösungen mit der Musterlösung und finden heraus, mit welcher Arbeitsweise Sie näher an der richtigen Lösung herangekommen sind.
Machen Sie bitte eine kurze Pause von 10 Minuten und setzen Sie die gezeigten Dinge für sich selbst um – die Lösung gibt es dann gleich im Anschluss!
Lösungsansätze
Lösung 1 zur Fachsprache
Wie auch im Video dargestellt, ist Folgendes festzuhalten:
- In der vorliegenden Fallstudie sind insbesondere folgende Worte des Sachverhalts als Fachsprache zu identifizieren, so dass hier ein rechtlicher Bezug zu einer bestimmten Rechtsfolge herzustellen wäre:
- er „erkenne die Schuld an“ = Schuldanerkenntnis i.S.d. § 781 S. 1 BGB,
- „Schaden sofort ausgleichen“ = Verweis auf § 271 Abs. 1 BGB, wo ebenfalls der Begriff „sofort“ verwendet wird und nach der Rechtslehre dazu führt, dass der Gläubiger augenblicklich die Leistung verlangen darf und nicht lange zu warten braucht, Palandt / Grüneberg, § 271 BGB, Rn. 10. Es sind aber übliche Geschäftszeiten, z.B. hervorgerufen durch den Bankablauf und dortigen Ausführungsfristen hinzunehmen, vgl. z.B. § 675 s BGB.
Lösung 2 zu Fallskizzen und Datentabellen
Wie bereits in einem vorhergehenden Video gezeigt, könnte die Sachverhaltsskizze wir folgend aussehen:
Sachverhaltsangaben zum LKW-Fahrer A hier eintragen:
|
Sachverhaltsangaben, die für beide Seiten relevant sind, hier in der Mitte eintragen: | Sachverhaltsangaben zum Fahrrad-Fahrer F hier eintragen: |
· fährt nicht ganz rechts
· wird zu einem Ausweichmanöver gezwungen · |
· unübersichtliche Landstraße · Polizei nimmt Fall auf |
· schneidet Kurve
· steht im Wege · Unfallbericht mit Schuldeingeständnis unterschrieben · ist 15 Jahre alt |
A-GmbH
verlangt Schadensersatz… |
… aber der Fahrradfahrer F
weigert sich |
|
· 4.000 € an Sachschaden, Verdienstausfall und entgangenem Gewinn
Fallfrage: Wer hat Recht? Kann die A-GmbH vom F 4000 Euro verlangen? |
Lösung 3 zum Regel-Ausnahme-Denken
Grundsatz 1
In der Fallstudie ist zu beachten, dass jeder Verkehrsteilnehmer grundsätzlich sein Verhalten im Straßenverkehr an die folgenden Regeln des Straßenverkehrsgesetzes und der Straßenverkehrsordnung anzupassen hat:
- Rechtsfahrgebot nach § 2 Abs. 2 StVO
- Gebot des vorausschauenden Fahrens nach § 3 Abs. 1 S. 3 StVO
- Anrechnung der eigenen Betriebsgefahr des eigenen Fahrzeugs, § 7 StVG
Auf der Seite des die Kurve schneidenden Fahrradfahrers bedeuten diese Regeln, dass den F zumindest ein Verschulden wegen des Verstoßes gegen das Rechtsfahrgebot trifft.
Ausnahme 1: Kein Rechtsfahrgebot
Ausnahmen von dieser Regel könnten zulässig sein, wenn der Fahrradfahrer z.B. wegen eines plötzlich auftretenden Hindernisses auf der rechten Seite kurz auf die linke Straßenseite ausweichen musste.
Grundsatz 2 Erhöhung der Mitverschuldensquote bei eigenen Verstößen des Geschädigten
Auf der Seite des nicht ganz rechts fahrenden LKW-Fahrers ist neben dem Verstoß gegen das Rechtsfahrgebot auch noch sein Unvermögen, vor dem Fahrradfahrer F zum Stehen zu kommen als ein Verstoß gegen das Gebot des vorausschauenden Fahrens zu werten. Wäre A langsamer gefahren, hätte er einfach bremsen können, der LKW wäre nicht durch das Ausweichen beschädigt worden. Damit erhöht sich grundsätzlich seine Mitverschuldensquote.
Ausnahme 2 Sog. unanwendbares Ereignis
Ausnahmsweise spielt die Geschwindigkeit keine Rolle und führt nicht zur Erhöhung der Mitverschuldensquote, wenn der Unfall auch bei angepasster Geschwindigkeit geschehen wäre, sog. unabwendbares Ereignis. Dann müßte der LKW-Fahrer nachweisen, dass das Ausweichmanöver auch bei ordnungsgemäßem Rechtsfahren notwendig gewesen wäre, z.B., weil der Fahrradfahrer schon sehr weit auf der Fahrspur des LKW-Fahrers rübergefahren war.
Grundsatz 3 Betriebsgefahr führt zur Erhöhung des Mitverschuldens
Fraglich ist, ob sich die A-GmbH zusätzlich noch die grundsätzlich vom motorisierten Unfallverursacher für sein eigenes Fahrzeug zu tragende Betriebsgefahr auf ihre Mitverschuldensanteile anrechnen lassen muss.
Ausnahme 3 Betriebsgefahr tritt hinter schweren Verkehrsverstoß zurück
Die Betriebsgefahr wirkt sich nicht aus, wenn z.B. ein schwerer Verkehrsverstoß eines Unfallbeteiligten vorliegt, etwa dieser die Fahrbahn bei Rotlicht überquert und vom Auto erfasst wird, vgl. z.B. BGH VersR 61, OLG Karlsruhe, Urteil vom 08.06.2009, 1 U 79/09. Solange diese Sonderumstände (Rotlicht) aber nicht gegeben sind, muss die A-GmbH sich auch die Betriebsgefahr zurechnen lassen und es bleibt bei einer Erhöhung ihres Mitverschuldensanteils!
Lösung 4 zur prozessualen und tatsächlichen Wahrheit
Unstreitige Sachverhaltsangaben
- Alter des 15-jährigen Fahrradfahrers Fritz (F)
- Landstraße
- entgegenkommender LKW-Fahrer Albert (A) der Spedition A-GmbH
- neu gekauften LKW mit Sachschaden e
- F unterschreibt spontan auf dem vom Angestellten A am Unfallort ausgehändigten Unfallbericht eine Erklärung er „erkenne die Schuld an“ und „seine Versicherung werde den Schaden sofort ausgleichen“.
- Als Zahlungsfrist vereinbart man „2 Wochen“.
- Später nimmt die Polizei den Unfallhergang auf.
- Nach Einholung von Rechtsrat weigert sich F in der Folgezeit, der A-GmbH den gesamten Schaden zu bezahlen.
Zu beweisende Sachverhaltsangaben
- Fahrradfahrer Fritz (F) schneidet auf einer unübersichtlichen Landstraße die Kurve
- Der entgegenkommende LKW-Fahrer Albert (A) fährt nicht allzu weit rechts fährt und wird zu einem Ausweichmanöver gezwungen
- und erleidet an seinem LKW insgesamt 4.000 € Sachschaden einschließlich entgangenen Gewinns, da der LKW für 1 Woche nicht im Frachtgeschäft eingesetzt werden konnte.
Ergebnisse
- Sie lesen juristische Texte langsamer und wiederholt!
- Sie wissen jetzt, dass man unter Juristen eine Fachsprache spricht!
- Sie suchen ab jetzt immer die „Signalwörter“ in Falltexten!
- Sie wissen, dass jeder Rechtsbegriff eine genau definierte Bedeutung hat, die es gilt herauszufinden!
- Sie arbeiten in Zukunft mit Fallskizzen und Datentabellen, bevor Sie die Lösung aufschreiben!
- Sie klären, wie der Fall grundsätzlich zu lösen wäre und ob aber evtl. Ausnahmen gegeben sein könnten!
- Sie trennen die bewiesenen Sachverhaltsangaben von den bestrittenen bzw. nicht bewiesenen Angaben! Sie bewahren Unbefangenheit, wenn Sie unbekannte Fälle lesen, da Sie die obigen Tipps kennen!
Eine Bitte zum Schluss
Haben Sie auch Ihre eigenen Lösungen verglichen? Der Blog ist am Entstehen und wartet auf meinen und Ihren Input. Falls Sie Anregungen zu den Inhalten haben, bitte gleich in den Kommentar reinschreiben! Alles wird beim Erstellen der Blogbeiträge berücksichtigt!
Bis bald, freue mich auf Sie!
Ihr Online-Professor Thorsten S. Richter
PS: Alle Inhalte wurden sorgfältig recherchiert und juristisch geprüft. Trotzdem kann es vorkommen, dass die Inhalte aufgrund der im konkreten Fall gegebenen Besonderheiten nicht passen. Um das auszuschließen bitte ich Sie, vor der Anwendung der hier erläuterten Inhalte diese zu überprüfen und bei Zweifeln u.a. unsere juristischen Partner zu kontaktieren.