Ausgangsfall und Frage
Hier nochmals der Ausgangsfall und die Frage: Wie findet man die wichtigsten Beteiligten?
Der 15-jährige Fahrradfahrer Fritz (F) schneidet auf einer unübersichtlichen Landstraße die Kurve.
Der entgegenkommende LKW-Fahrer Albert (A) der Spedition A-GmbH, der ebenfalls nicht allzu weit rechts fährt, wird zu einem Ausweichmanöver gezwungen und erleidet an seinem gerade neu gekauften LKW insgesamt 4.000 € Sachschaden einschließlich entgangenen Gewinns, da der LKW für 1 Woche nicht im Frachtgeschäft eingesetzt werden konnte.
F unterschreibt spontan auf dem vom Angestellten A am Unfallort ausgehändigten Unfallbericht eine Erklärung er „erkenne die Schuld an“ und „seine Versicherung werde den Schaden sofort ausgleichen“.
Als Zahlungsfrist vereinbart man „2 Wochen“. Später nimmt die Polizei den Unfallhergang auf. Nach Einholung von Rechtsrat weigert sich F in der Folgezeit, der A-GmbH den gesamten Schaden zu bezahlen.
Fragen
Was sagt das Recht zu diesem Fall?
Kann die A-GmbH von F 4.000 Euro Schadensersatz wegen des Unfalls verlangen?
Folgende Fragen können letztlich helfen, die im Fall angesprochene Fallproblematik einzugrenzen und den richtigen Einstieg in die Rechtslösung zu finden:
1. Schritt
Wie lautet das Anspruchsziel, ausgehend von der konkretisierten Fallfrage?
Das erste, was man bei der Suche nach richtigen Vorschriften machen sollte, ist nach dem Anspruchszielen der Streitpartei zu fragen, denn dieses sollte der Rechtsfolge der gesuchten Vorschrift entsprechen.
Das setzt die Kenntnis der wichtigsten Anspruchsziele für
- Vertragserfüllung,
- Rückabwicklung,
- Herausgabe und
- Schadensersatz
voraus.
1. Tipp
Anspruchssteller und Anspruchsgegner herausarbeiten
- Wie viele Streitparteien sind unmittelbar am Rechtsfall beteiligt?
- Wer ist Anspruchssteller?
- Wer ist Anspruchsgegner?
- Wie alt sind die Beteiligten und in welchem Geisteszustand?
- Besteht ein Vertretungsverhältnis?
- Geht es um einzelne Personen oder eine Personenmehrheit?
- Handelt es sich um natürliche oder juristische Personen?
Welche 4 Aspekte sind bezüglich der Streitparteien immer wieder relevant?
Bei der Fallbearbeitung stehen naturgemäß die Streitparteien mit ihren Handlungen und Unterlassungen sowie ihren Forderungen im Mittelpunkt der Betrachtung. Sie werden mit unterschiedlichen Bezeichnungen vom Gesetz versehen (z.B. Verkäufer und Käufer, Vermieter und Mieter). In der Rechtslehre grenzt man die Anspruchssteller und Anspruchsgegner von den Streitobjekten durch die folgenden 2 Begriffe ab:
- Man spricht von den Rechtssubjekten, da sie Träger von Rechten und Pflichten sind (also quasi „Subjekte“, die Rechte innehaben können).
- Davon zu trennen sind die Rechtsobjekte, an denen die Rechtssubjekte Rechte haben, z.B. Sachen und Grundstücke.
Für die praktische Arbeit am Fall ist es hilfreich sich folgende immer wieder kehrenden Fragestellungen hinsichtlich folgender Punkte zu verdeutlichen:
Aspekt 1 Alter und Geisteszustand
Aspekt 2 Vertretungsverhältnis
Aspekt 3 Einzelne Person oder Personenmehrheit
Aspekt 4 Natürliche oder juristische Person
In der Fallstudie sind beim
- Aspekt 1 die Minderjährigkeit des Fahrradfahrers F und die sich daraus ergebenden rechtlichen Auswirkungen für die Abgabe von Willenserklärungen zu problematisieren.
- Aspekt 2 das zwischen dem Fahrer A und der A-GmbH als Eigentümerin des beschädigten LKW bestehende Vertretungsverhältnis zu erkennen.
- Aspekt 3 nur einzelne Personen festzustellen, so dass keine Fragen im Hinblick auf die Auseinandersetzung von mehreren Personen zu klären sind.
- Aspekt 4 die Qualifizierung der A-GmbH als juristische Person wichtig, da somit eine natürliche Person wie z.B. ein GmbH-Geschäftsführer, Prokurist oder anderer Vertreter erforderlich ist. Nur diese können für die A-GmbH rechtlich wirksame Handlungen wie z.B. Geltendmachung von Schadenersatzforderungen gegenüber dem F, vornehmen.
2. Tipp
Weitere unmittelbar Betroffene ermitteln
- Welche weiteren unmittelbar betroffenen Fall-Beteiligten könnten in der Fallbearbeitung eine Rolle spielen?
- Treten Vertreter auf?
- Handeln sog. Hintermänner?
Welche 2 typischen Beteiligten können unter den weiteren Betroffenen bei der Fallbearbeitung zu prüfen sein?
Neben den eigentlichen Streitparteien spielen manchmal auch weitere Personen für die Falllösung eine Rolle:
Zum Teil können die Handelnden selbst nicht rechtswirksam Rechtspflichten begründen und bedürfen der Zustimmung z.B. ihrer gesetzlichen Vertreter, etwa bei minderjährigen Vertragspartnern.
Beispiele ● Eltern schließen als gesetzliche Vertreter für ihre minderjährigen Kinder Verträge ab, §§ 1629 Abs. 1 S. 2 ● GmbH-Geschäftsführer setzen rechtliche Vorschriften für die GmbH um, § 35 Abs. 1 S. 1 GmbHG, dürfen aber keine Prokuristen oder Handlungsbevollmächtige einsetzen, § 46 Nr. 7 GmbHG.
Evtl. treten bei Rechtsfällen auch versteckte Hintermänner auf, die zwar nicht direkt genannt werden, aber letztlich das Gesamtgeschehen steuern, z.B. bei Rechtsfällen, in denen eine Konzernstruktur vorherrscht. Dort werden oftmals rechtlich selbstständige Tochterfirmen für Vertragsschlüsse als Vertragspartner benannt. Wirtschaftlich gesehen sollen die Rechte und Pflichten aus den Verträgen allerdings der Konzernmutter obliegen.
In der Fallstudie
- sind gemäß § 1629 Abs. 1 S. 1 sind grundsätzlich die Eltern des F als gesetzliche Vertreter dazu berufen, rechtsgeschäftlich nachteilhafte Erklärungen für ihren Sohn abzugeben, also z.B. in die Abgabe der Schuld anerkennenden Annahmeerklärung des minderjährigen Sohnes F einzuwilligen.
- der Anspruchsstellerin A GmbH als Arbeitgeberin das tatsächliche Handeln des LKW-Fahrers rechtlich und wirtschaftlich zugeordnet. Der A hat bei seinem Ausweichmanöver im Sinne der A-GmbH handeln wollen.
3. Tipp
Amtliche Stellen kennen
- Welche amtlichen Stellen könnten für die Fallbearbeitung wichtig werden?
- Welche Auswirkungen haben unterschiedliche Zuständigkeiten amtlicher Stellen auf den Fall?
- Welche Befugnisse haben Aufsichtsbehörden?
- Welche Anforderungen stellen Fiskalbehörden?
- Was ist den Sozialversicherungsstellen zu melden?
- Welche prozessualen Anforderungen stellen die zuständigen Gerichte?
Angesichts der fortgeschrittenen Bürokratie in vielen Industriestaaten ist es für die ganzheitliche Lösung von Rechtsfällen unerlässlich, die Zuständigkeiten und Befugnisse amtlicher Stellen zu klären. Nicht nur in der Prüfung, sondern auch in der Praxis müssen insbesondere inhaltlich folgende Aspekte der Zuständigkeit und Rechten und Pflichten geklärt werden,
- wer an welchem Ort (örtlich),
- für welche Instanz (instanziell)
- durch welche Personen (personell)
- für welche Entscheidungen (fachlich)
zuständig und mit Rechten und Pflichten ausgestattet sind.
Art 3 Sozialversicherungsstellen
In der Fallstudie
- Art 1 ist eine Spedition betroffen, die unter das Güterkraftverkehrsgesetz fällt, soweit sie Güterkraftverkehr i.S.d. § 1 GüKG anbietet. Das GüKG enthält eine Vielzahl von Anforderungen z.B. hinsichtlich der Qualifikation der eingesetzten Fahrer, § 7b GüKG. Diese werden von verschiedenen Aufsichtsbehörden, wie z.B. dem Bundesamt für Güterverkehr und den bundeslandabhängig zuständigen Gewerbebehörden, wie z.B. in Sachsen die Landratsämter, kontrolliert. Deren Befugnisse gehen bis zur Untersagung der Weiterfahrt, § 13 GüKG.
- Art 2 wird die Spedition außerdem von den Finanzämtern wie jeder Gewerbebetrieb kontrolliert. Darüber hinaus gibt es besondere Berührungspunkte mit Zollbehörden, soweit Speditionen zollrelevanten Geschäftsverkehr haben.
- Art 3 muss sich die A-GmbH auch an die gesetzlich verpflichtenden Sozialversicherungspflichten halten, wobei Verstöße nicht selten auch bei Verkehrsunfällen auffallen, wenn die herbeigerufene Polizei Kontrollmitteilungen an die SozialversicherungsbehördenB. bei nicht angemeldeten Fahrpersonal verschickt.
- Art 4 Ob ein deutsches oder ein französisches Gericht zuständig ist, würde vorliegend nach 4 Abs. 1 EUGVVO entschieden: es kommt grundsätzlich auf den Wohnsitz des Beklagten, hier als F an. Daneben könnte auch eine besondere Zuständigkeit nach Art. 7 EuGVVO in Abs. 1 Nr. 2 gegeben sein, so dass der Ort des Schadenseintritts relevant ist. In Deutschland wären instantielle als amtliche Stellen zudem die Amtsgerichte angesprochen, da es um die Prüfung von Ansprüchen geht, deren Gegenstand an Geld die Summe von fünftausend Euro nicht übersteigt, § 23 Nr. 1 GVG.
4. Tipp
Sonstige Stellen suchen
- Gibt es sonstige Beteiligte, deren Auswirkungen für den Fall analysiert und genannt werden müssen?
- Sind Rechtsanwälte zwingend einzusetzen?
- Welche Rechte haben Interessenverbände?
- Wie können Schutzvereinigungen in einem Rechtsfall auftreten?
- Welche Interessen können durch sonstige Informationsträger mit Auswirkung auf den Rechtsfall vertreten werden.
Gruppe 4 Sonstige Informationsträger
In der Fallstudie
- Gruppe 1 können die Parteien A-GmbH und F zur Klärung der gegenseitigen Ansprüche z.B. auf Verkehrsrecht spezialisierte Rechtsanwälte hinzuziehen, die nach § 14 d der Fachanwaltsordnung (FAO) ihre besonderen Kenntnisse und praktischen Erfahrungen im vorliegend zwischen A-GmbH und F schwelenden Verkehrsrechtsstreit einbringen können.
- Gruppe 2. sind als Interessenverbände die berufsständische Organisationen z.B. die Industrie- und Handelskammern für die A-GmbH und die Verbraucherschutzverbände für den F zuständig.
- – Gruppe 3 fungieren als Schutzvereinigungen Europäische Verbraucherzentren, z.B. in Kehl haben z.B. den Vordruck eines Muster-Unfallberichts erarbeitet, der vorliegend evtl. auch verwendet wurde.
- Gruppe 4 als Informationsträger im Hinblick auf die Interessen der Spediteure vor allem die Verbände zuständig, z.B. den Bundesverband Spedition und Logistik (BSL).
Ihr Aufgabe (Call to Action)
Gehen Sie die oben gezeigten Tipps durch und zeigen Sie auf jeder Ebene, welche Beteiligten Sie gefunden haben!
Lösungsansätze
In der vorliegenden Fallstudie sind in
- Kategorie 1 als Anspruchssteller die USA-GmbH und als Anspruchsgegner der minderjährige Fahrradfahrer F zu nennen. Zusätzlich könnten die gesetzlichen Vertreter des F, also z.B. die Eltern des F als Anspruchssteller eine Rolle spielen, zu denen aber Angaben im Sachverhalt fehlen.
- Kategorie 2 B. als weiterer unmittelbar Betroffener der Fahrer A der A-GmbH zu qualifizieren.
- Kategorie 3B. die Polizei als unfallaufnehmende amtliche Stelle sowie im Klagefall die Gerichte einzuordnen.
- Kategorie 4 als sonstige BeteiligteB. die möglicherweise einzuschaltenden Rechtsanwälte, Sachbearbeiter in schadensregulierenden Kfz-Versicherungen sowie die Reparatur ausführende Werkstatt sowie evtl. herangezogene Sachverständige zu beachten.
Eine Bitte zum Schluss
Haben Sie auch Ihre eigenen Lösungen verglichen? Der Blog ist am Entstehen und wartet auf meinen und Ihren Input. Falls Sie Anregungen zu den Inhalten haben, bitte gleich in den Kommentar reinschreiben! Alles wird beim Erstellen der Blogbeiträge berücksichtigt!
Bis bald, freue mich auf Sie!
Ihr Online-Professor Thorsten S. Richter
PS: Alle Inhalte wurden sorgfältig recherchiert und juristisch geprüft. Trotzdem kann es vorkommen, dass die Inhalte aufgrund der im konkreten Fall gegebenen Besonderheiten nicht passen. Um das auszuschließen bitte ich Sie, vor der Anwendung der hier erläuterten Inhalte diese zu überprüfen und bei Zweifeln u.a. unsere juristischen Partner zu kontaktieren.